Oosterwold: Urbane Lebensmittelversorgung neu gedacht. Eigenverantwortung und Selbstorganisation statt 'Top-Down'-Planung?
- Essbare Stadt Linz
- 24. Feb.
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. März

Hedda, engagierte Initiatorin von 'Wiesennetz Univiertel', das sich für mehr Artenvielfalt von Tieren und Pflanzen auf städtischen Wiesen durch Sensenmahd einsetzt, hat uns einen interessanten Link zum Thema 'Die Stadt ernähren' geschickt, der uns zu weiteren Recherchen veranlasste. Lass' Dich vom folgenden Artikel inspirieren ...
Immer häufiger taucht die Frage auf, ob und wie urbane Landwirtschaft zur Lebensmittelversorgung einer Stadt beitragen kann. Oosterwold, ein Stadtteil von Almere in den Niederlanden, geht hier neue Wege.
Oosterwold, ein östlicher gelegener Stadtteil von Almere (Niederlande), geht einem Ansatz nach, wie urbane Landwirtschaft gezielt in die Stadtplanung integriert werden kann. Es handelt sich um ein eigenständiges Entwicklungsgebiet mit einem sehr experimentellen Ansatz für Stadtplanung und Landwirtschaft auf der Basis von Eigenverantwortung und Selbstorganiation. Aufgrund seiner Struktur – grosse Grundstücke, viel Grün, individuelle Bebauung – wirkt Oosterwold eher wie ein ländlicher Vorort als ein klassischer Stadtteil.
In diesem selbstorganisierten Modell haben sich Bewohner verpflichtet, einen Teil ihres Grundstücks für die Lebensmittelproduktion zu nutzen. Je nach Grundstückstyp sind mindestens 50 % der Fläche sind für Landwirtschaft zu reservieren, um 10 % des künftigen Nahrungsmittelbedarfs von Almere vor Ort zu decken. (Vergleiche dazu auch die Hinweise zu Paris und Kuba >>>)
Statt einer klassischen Top-down-(Von-oben-nach-unten-)Planung basiert Oosterwold auf Mitwirken und Selbstorganisation: Die Bewohner planen nicht nur ihre Häuser, sondern auch Infrastruktur und Anbauflächen gemeinschaftlich. Diese enge Verzahnung von Wohnen und Landwirtschaft führt zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung und einer widerstandsfähigeren Lebensmittelversorgung, die in der Lage ist, auf Veränderungen flexibel zu regieren, um - bildlich gesprochen - entstandene 'Dellen' rasch wieder ausgleichen zu können.(1)
(1) Vergleiche dafür den Begriff 'Resilienz' von 'resilire' (zurückspringen, abprallen), ursprünglich die Fähigkeit von Materialien, nach einer Verformung in ihre ursprüngliche Form zurückzukehren.
Stadtbewohner nehmen sowohl Versorgung als auch Stadtplanung selbst in die Hand
Ein Modell wie jenes von Oosterwold bietet Menschen die Möglichkeit, sich wieder daran zu erinnern, WAS sie sind: Lebendige Menschen mit Herz, Sinn und Verstand, die sich an ihre Fähigkeiten erinnern - jeder an seine ganz eigenen - und diese zusammentragen, um Grosses zu bewirken: Für sich selbst und andere. Statt dem erwähnten 'Von-oben-nach-unten' - ein übliches und sicher verwaltungstechnisch gut gemeintes Modell - ein Miteinander auf Augenhöhe. Ein Experiment der besonderen Art, dennoch scheint die Zeit dafür gekommen zu sein.
Oosterwold: Inspiration statt Nachahmung
Das im Folgenden angesprochene Modell soll lediglich als Anregung zu neuen Ansätzen dienen. Jede Stadt und jede Gemeinde soll ermutigt sein, ihre Lösungen zu finden und ihre ganz eigenen Wege zu gehen. Die Menschen einer Stadt oder einer Gemeinde sind einzigartig: Aufgrund ihrer Geschichte, ihrer Lage, ihres Umfeldes, ihrer Struktur, ihrer Menschen, die sich dort zusammengefunden haben, ihres Klimas, ihres Mikroklimas, ihres sozialen Klimas uvm.
Der Wunsch nach Struktur ist verständlich: Sie lässt sich einfacher verwalten, sie lässt sich messen. Doch sie beraubt die Menschen und ihre Gemeinde oder Stadt ihrer Flexibilität, ihrer Einzigartigkeit und ihrer Resilienz. Für sie zählt nicht ihre Messbarkeit, sondern v.a. attraktive, stimmige Lösungen und hochwertige Lebensqualität im Sinne eines der Würde des Menschen entsprechenden Lebens.
Ein Blick nach Oosterwold

Ausgangslage
Ursprünglich war das rd. 4'300 ha (43 km2) grosse Gebiet von Oosterwold für grossflächige konventionelle Landwirtschaft mit Ackerbau und Viehzucht zur unterstützenden Versorgung von Almere vorgesehen, der achtgrössten Stadt der Niederlande, die 1975 auf trockengelegten Flächen errichtet worden war. Zwischen 1977 und 2012, innerhalb von nur 35 Jahren, war die Bevölkerungszahl von Null auf rund 200'000 Einwohner angewachsen.
Aufgrund des steigenden Bevölkerungswachstum war die Stadt auf der Suche nach neuen Flächen zur Wohnbebauung. Die Lösung sahen die Planer in der Nutzung der landwirtschaftlichen Flächen von Oosterwold - jedoch unter Beibehaltung der Landwirtschaft. Gemäss dem Masterplan Almere 2.0 (Almere 2009) sollen 15'000 neue Häuser bzw. Wohneinheiten errichtet werden (was einer durchschnittlichen Grundfläche von rd. 2'870m2 je Haus entspräche). Statt Trennung der Resorts setzte Almere dabei auf Integration von Landwirtschaft und Wohnbau, statt üblicher detaillierter Planung auf Selbstorganisation:
Integration von Landwirtschaft und Wohnen
Während in klassischen Stadtentwicklungsprojekten Landwirtschaft und Wohngebiete oft strikt getrennt sind, setzt Oosterwold auf eine enge Verzahnung beider Elemente. Dies geschieht durch eine innovative Raumordnung, die verschiedene Parzellentypen definiert (z. B. Standard-, Landwirtschafts-, Grün- oder Gewerbeparzellen). Während auf Standard- oder Gewerbeparzellen über 50% für urbane Landwirtschaft zu nutzen sind, liegt der Prozentsatz bei landwirtschaftlichen Parzellen bei mindestens 80 % der Fläche.
Partizipation und Selbstorganisation
Ein zweite zentrale Element von Oosterwold ist die Selbstorganisation der Bewohner. Sie sind nicht nur für den Bau ihrer Häuser verantwortlich, sondern auch für die Entwicklung und Instandhaltung der Infrastruktur, einschließlich Strassen und gemeinschaftlicher Einrichtungen - wobei sie hierbei völlig freie Hand haben. Mittlerweile organisiert sich die Bevölkerung dazu in formellen und informellen Gruppen, um Wissen auszutauschen und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten.
Herausforderungen der urbanen Landwirtschaft in Oosterwold
Ein Herausforderung bei der Umsetzung der urbanen Landwirtschaft in Oosterwold ist die mangelnde Erfahrung vieler neuer Bewohner. Laut einer Umfrage stuften sich 42 % als unerfahren ein, während nur 14 % über landwirtschaftliche Vorkenntnisse verfügten. Dennoch stellte die Stadtverwaltung (ODA) nur begrenzte Unterstützungsangebote (2) zur Verfügung, sodass die Bewohner vor der Herausforderung standen, sich Wissen und Ressourcen eigenständig anzueignen. In den ersten Jahren stand die Landwirtschaft oft hinter dem Hausbau und der Infrastrukturentwicklung zurück, weshalb viele Parzellen zunächst ungenutzt blieben. Gruppen und Netzwerke dienen auch hier, um Wissen und Erfahrungen miteinander zu teilen, gemeinsam landwirtschaftliche Geräte oder Erzeugnisse zu nutzen oder zu organisatorischen Zwecken.
Definition urbaner Landwirtschaft und Herausforderungen mit Behörden
Die offizielle Definition der urbanen Landwirtschaft in Oosterwold umfasst nicht nur den Anbau und Verkauf von Lebensmitteln, sondern auch Viehzucht und Fischproduktion. Mindestens 80 % der landwirtschaftlichen Fläche sind also zur Lebensmittelproduktion zu nutzen. Die ODA orientierte sich dabei zunächst an konventionellen Maßstäben, z. B. 200 Masthühner oder 80 Obstbäume pro 1'000 Quadratmeter. Viele Bewohner empfanden diese Vorgaben als unrealistisch und ignorierten sie, da sie in kleineren Maßstäben wirtschafteten und eher Gartenbau statt professionelle Landwirtschaft betrieben.
Nach Diskussionen mit den Anwohnern passte die ODA die Regeln an und erkannte Blumen- und Baumpflanzungen als Teil der urbanen Landwirtschaft an. Gewächshäuser blieben jedoch umstritten, da die Behörde sie als 'Bebauung' betrachtete, während die Bewohner sie als notwendige Infrastruktur für den Nahrungsmittelanbau ansahen.
Überwiegend Hobbyanbau statt professioneller Landwirtschaft
Obwohl Oosterwold ursprünglich als Standort für nachhaltige Lebensmittelproduktion gedacht war, entwickelten sich die meisten Parzellen nicht zu professionellen landwirtschaftlichen Betrieben. Der Grund dafür liegt in mehreren Faktoren:
Hohe Grundstückspreise und begrenzte Verfügbarkeit von spezialisierten Flächen führten dazu, dass viele Bewohner nur kleine Flächen bewirtschaften.
Die meisten landwirtschaftlichen Parzellen sind zwischen 500 und 5'000 m2 gross, sodass sich ein wirtschaftlicher Betrieb kaum rentiert.
Die Mehrheit der Anwohner nutzt ihre Flächen für Gemüse- und Obstgärten zur Selbstversorgung und den Austausch in der Nachbarschaft.
Bis Stand 2023 hatte sich lediglich ein einziges professionelles Landwirtschaftsprojekt mit 40 ha Fläche und Hofladen etabliert.
Während einige Bewohner also primär für den Eigenbedarf anbauen, gehen andere ambitioniertere Wege. So nutzt Jalil Bekkour seinen Garten für Zutaten, die in seinem Restaurant Atelier Feddan auf den Teller kommen. Seit der Eröffnung vor drei Jahren stammen rund 80 % der dort servierten Speisen aus Oosterwold – Beispiel einer Verzahnung von urbaner Landwirtschaft mit Wirtschaft.
Lebensmittelversorgung in der Stadtregion: Herausforderungen und Chancen
Die Stadtplanung steht vor der Herausforderung, stadtnahe Landwirtschaft zu ermöglichen, die trotz konkurrierender Flächennutzung einen echten Beitrag zur Lebensmittelversorgung leistet. Eine zentrale Aufgabenstellung war es daher, Raum für Wohnbebauung zu schaffen unter Beibehaltung der Landwirtschaft. Häufig wird diese Form der Landwirtschaft unterschätzt, da Stadtentwicklung und Landwirtschaft in der Praxis meist strikt getrennt geplant werden. Nicht zu unrecht, wenn Grüngürtel um die Stadt erhalten werden sollen, die eine wesentliche umfangreichere Funktion erfüllen, als lediglich 'grün' zu sein. Diese 'Konkurrenz'-Situation führt häufig dazu, dass landwirtschaftliche Flächen langfristig häufig dennoch nicht erhalten bleiben, sondern schrittweise für andere Nutzungen umgewidmet werden. Eine zentrale Frage ist daher, wie Stadtplanung einer solchen Entwicklung nicht einfach nur entgegenwirken, sondern alternative Möglichkeiten schaffen kann, um stadtnahe Landwirtschaft zu integrieren und bisher einseitig, dürftig oder nicht genutzte Flächen für urbane 'Landwirtschaft', gemeinschaftlich genutzte Gärten und naturnahe Flächen mit grosser Vielfalt auf kleinem Raum zu nutzen.
Herausforderungen in der Stadtplanungspraxis
Wissenschaftliche Analysen zeigen, dass Stadtplanung die Funktion der Landwirtschaft oft nur als ästhetisches Element betrachtet, anstatt ihre zentrale Rolle für die Lebensmittelversorgung anzuerkennen. In Oosterwold begann die Stadtplanung als offener, sogenannter 'iterativer Prozess' - ein Ansatz, bei dem ein Projekt, Produkt oder Vorhaben erstellt, weiterentwickelt und so lange verbessert wird, bis ein zufriedenstellendes Ergebnis erreicht worden ist-, der jedoch zwei zentrale Probleme aufwies:
Verteilung und Preisgestaltung von Land: Die Landpreise in Oosterwold orientierten sich primär an wirtschaftlichen Kriterien, nicht an landwirtschaftlichen Erfordernissen. Dies führte dazu, dass viele Bewohner nur kleine Flächen erwerben konnten, was großflächigere, professionelle Landwirtschaft erschwerte.
Fehlendes Fachwissen: Die neuen Bewohner hatten meist wenig Erfahrung mit Landwirtschaft, sodass sie sich überwiegend auf kleinflächigen Gartenbau konzentrierten. Die Stadtplanung setzt auf Selbstorganisation, anstatt gezielte Unterstützungsmaßnahmen anzubieten – was zwar einer gängigen Praxis entspräche, den Ansatz der Eigenverantwortung und Selbstorganisation jedoch zunichte machen würde.
Im Herbst 2023 wurde daher gemeinsam von der Oosterwold Food Cooperative (der Oosterwolder Lebensmittelgenossenschaft) und der lokalen Behörde von Almere der 'Oosterwold Food Hub' gegründet, um die Bewohner in ihren landwirtschaftlichen Aktivitäten zu unterstützen. Er dient als Zentrum für den Austausch von Wissen und Ressourcen, bietet Workshops an und fördert die Zusammenarbeit innerhalb der Gemeinschaft.

Résumé für Oosterwold
Noch scheint der eingeschlagene Weg Almeres mit der weitgehenden Übergabe der landwirtschaftlichen Produktion an Laien nicht zum gewünschten Ergebnis, sondern zu einer eher einseitigen Nutzung zu führen. Ist ein ganz bestimmtes Ziel vorgesehen, so ist es unmöglich, dieses zu erreichen, wenn Beteiligten dieses nicht oder nicht ausreichend bekannt ist. Andererseits haben die Bewohner Oosterwolds freie Hand unter Einhaltung sehr weniger bestimmter Vorgaben erhalten - und vorhandenen Ergebnisse spiegeln eine Mischung aus Bedürfnissen, Fähigkeiten und Möglichkeiten der dort lebenden Menschen wieder.
Unumstritten ist, dass das Modell Oosterwold mittlerweile doch eher selten gewordene Chancen bietet: Durch die Öffnung für neue Akteure entsteht Raum für Kreativität und Innovationen, neue Strukturen und Marktstrukturen sowie alternative Anbaumethoden. Dies verdeutlicht, dass eine nachhaltige Stadt-Land-Versorgung nicht nur auf festgelegte Produktionsmengen abzielen sollte, sondern aufgefordert ist, auch soziale, ökologische und kulturelle Aspekte einzubeziehen. Die Planungspraxis in Oosterwold liefert daher keine universelle Blaupause für andere Städte, sondern vielmehr wertvolle Impulse und Ansätze zur Weiterentwicklung eines urbanen Lebensmittelversorgungs- und Lebenskonzeptes.

Résumé
Relevanz für die 'Essbare Stadt Linz'
Die Essbare Stadt Linz kann durch einen Wandel in der Stadtplanung noch lebendiger werden – weg von starren Top-down-Strukturen hin zu mehr Mitgestaltung, Selbstorganisation und Eigenverantwortung, wie es bereits einige Projekte in Linz ermöglichen (siehe auch >>>). Entscheidend dabei: Freude am Tun und am Lebendigen.
Spielraum für neue Optionen – Raum zur freien Entwicklung und Entfaltung bietet Möglichkeiten für innovative Ansätze und kreative Lösungen.
Vielfalt & Resilienz – Offenheit für unterschiedliche Ansätze kann die Anpassungsfähigkeit eines urbanen Landwirtschafts- und Versorgungssystems fördern.
Gemeinschaft, Wissen und Austausch - Laien und engagierte Hobbygärtner leisten wertvolle Beiträge in gemeinschaftlichen Gartenprojekten, Erntegemeinschaften oder beispielsweise solidarischer Landwirtschaft. Was es braucht, sind Verbindung, Kommunikation und Austausch zwischen ihnen, klein-bäuerlichen Betrieben, grösseren Landwirtschaften, den Abnehmern und der Stadtverwaltung. Hilfreich, wenn sich zu Entwicklungsschritten bewertungsfreie Dokumentationen gesellen, die es den Bewohnern ermöglichen, einen Überblick zu erhalten, aus Vergangenem Résumés zu ziehen und zu lernen.
Neue Wertmaßstäbe – Interessante Möglichkeiten, wenn gemeinnützige und wirtschaftliche Ansätze gleichwertig betrachtet werden. Während der professionelle Gartenbau Effizienz anstrebt, bietet der gemeinnützige Raum Platz für Experimente, neue Ideen und innovative Lösungsansätze – eine Chance, die beide Seiten bereichern kann - wenn wohlwollende Kommunikation stattfindet.
Für die 'Essbare Stadt Linz' könnte Oosterwold z.B. insofern als Inspiration dienen, um urbanes Gärtnern systematisch in die Stadtstruktur einzubinden – etwa durch Einplanung landwirtschaftlich genutzter Flächen in Neubauprojekte oder gemeinschaftlich genutzte Anbauflächen im Stadtgebiet.
Quellen:
Anmerkung: Etliche Artikel dazu gehen v.a. auch auf die architektonische Seite des Experiments ein.
Die Mutmacherei/ Inspiration für den Wandel - Oosterwold: Das Ökodorf in den Niederlanden
DW - Niederlande: Die grüne Stadt von morgen
Stadt + Grün - Almere - Eine niederländische Stadt auf dem Meeresgrund
The Guardian - 'You have to find your own recipe': Dutch suburb where residents must grow food on at least half of their property ('Du musst dein eigenes Rezept finden': Ein niederländischer Vorort, in dem die Bewohner auf mindestens der Hälfte ihres Grundstücks Lebensmittel anbauen müssen)
Stadtfragen published - Zu Besuch in Oosterwold: Interview mit Arjen Oosterman
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